Wir haben das alte Spielbuch über Bord geworfen: Die neue Gewerkschaftsbewegung bei Mercedes

(Veröffentlicht auf Labor Notes am 18.01.2024 von Jeremy Kimbrell, der bei Mercedes-Benz im US-Bundestaat Alabama beschäftigt ist. Die Originalversion findet ihr hier. Ein Video zu ihrer Kampagne findet ihr hier. Wir haben an manche Stellen den Text in etwa verallgemeinert, weil wir dadurch meinen, die Strategie und die Argumente des Autors so besser rüberzubringen.)

Autoarbeiter*nnen haben mehrere Organizing-Kampagnen im Mercedes-Benz-Werk in Alabama durch. Alle folgen einem ähnlichen Muster: Frustrierte Beschäftigte entscheiden, dass genug Energie für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen im Werk vorhanden ist und beginnen, über Organizing miteinander zu sprechen.

Wir wenden uns an die zuständige Gewerkschaft UAW, und treffen uns mit Organizer*innen. Sie führen uns durch die Schritte, die sie alle seit Jahrzehnten gelernt haben – ein Spielbuch, das für uns bei Mercedes noch nicht funktioniert hat.

Über die Jahre wurden wir frustriert – nicht nur mit dem Unternehmen, sondern auch mit den Methoden, die uns Organizer*innen immer wieder erklärten, wie Organizing funktionieren musste. Wir sagten oft zu den UAW-Vertreter*innen: „Wir wissen nicht, wie man gewinnt, aber wir wissen, wie man verliert, und ihr auch.“

In unserer neuesten Kampagne, im Bewusstsein darüber, wie soziale Medien und die Geschwindigkeit des technologischen Wandels unsere Gesellschaft verändert haben, mussten wir akzeptieren, dass das alte Vorgehen nicht mehr funktionieren wird. Also sagten wir der UAW, dass der traditionelle Ansatz für uns gestrichen sei.

Wir betonten auch, dass diesmal das Organizing von den Beschäftigten geführt musste. Wir suchten nicht nach einer Krücke, auf die wir uns stützen könnten. Zu unserer Überraschung fanden wir offene Ohren bei der Gewerkschaft.

„Zu unserer Überraschung fanden wir offene Ohren bei der Gewerkschaft.“

Und als wir sahen, dass diese UAW anders war, als die Organisation in der Vergangenheit häufig war, sagten wir: „Lass uns loslegen!“ Wir hatten den Wunsch, es bis zum Schluss durchzuziehen, und den Glauben, dass nach den neuen Tarifverträgen der „Big 3“-Automobilhersteller jetzt der Zeitpunkt gekommen war.

Der neue Ansatz funktioniert. Mit Rückenwind haben wir in sieben Wochen 1.500 Autorisierungskarten**1 in einem Werk mit 5.000 Arbeiterinnen unterschreiben lassen. (Zum Vergleich: 2013 brauchten wir sechs Monate, um 30 Prozent in einem Werk mit 2.200 Arbeiterinnen zu erreichen.)

So organisieren wir uns diesmal anders, und einige Lernerfahrung sind daraus entstanden:

Findet eine Kerngruppe

Wir haben eine Kerngruppe aufgebaut, die extrem engagiert war – Leute, die bereit waren, einige Dinge im Privatleben auf Eis zu legen, um unsere Kampagne in Gang zu bringen. Zu Beginn waren wir klein, vielleicht etwa 20 in einem Werk von 5.000.

Das ist erschreckend wenig für diejenigen, die sich mit Kampagnen auskennen. In vergangenen Kampagnen bestanden UAW-Vertreterinnen auf die Bedingung, dass wir 1 von 10 Beschäftigten im Werk – also in unserem Fall 500 Beschäftigten – benötigen würden, um einen Aktivenkreis zu gründen, bevor wir mit dem Erschließungsprozess überhaupt beginnen könnten.

Wer sind eure „Talkers“?

Aber 20 Leute sind nicht die echte Zahl, denn wir hatten eine Reichweite über die Kerngruppe hinaus. Wir wussten, dass wir hunderte von Leuten im Werk hatten, die täglich mit ihren Kolleginnen über die Gewerkschaft sprachen, aber kein Interesse daran hatten, sich zum Aktivenkreis zu bekennen.

Wir hatten gelernt, dass „Aktivenkreis“ ein beängstigender Begriff war. Beschäftigten wollen keinen zweiten Job. In früheren Kampagnen würde der Aktivenkreis manchmal mehrmals pro Woche Aktiventreffen abhalten. Organizer*innen bestanden darauf, dass Aktiven Hausbesuche2 machen, was extrem zeitaufwendig war und mit sehr geringer Rendite. Die Leute wollen wirklich nicht, dass wir zu ihrem Haus kommen. Die Fluktuation im Aktivenkreis war entsprechend hoch.

Wir hatten 2022 große Unterstützung im Werk, aber die Organizer*innen ließen uns keine Unterschriften im Werk sammeln. Wir wussten, dass wir Dynamik sich um die Unterschriftenliste entfalten würden. Wir lernten auch in dieser Kampagne, dass Leute an Bord geholt werden können, um „das Wort zu verbreiten“, nachdem sie unterschrieben haben. Es sind die zu vielen Treffen und das ständige Verteilen von Flugblättern vor bzw. nach den Schichten, die die meisten Leute abschrecken.

Also haben wir diesmal, anstatt Treffen und Flugblattverteilung zu fordern, es darum gemacht, Beziehungen untereinander aufzubauen. Das grundlegendste und wichtigste im Organizing ist die Ansprache. 1:1-Gespräche sind entscheidend. Wir wollten Leute einfach ermutigen, mit anderen zu reden und mitzumachen.

Unser Aktivenkreis hat identifiziert, wer die „Talkers“ sind: Leute, die bereit sind, mit ihren Kolleg*innen in ihrem Team oder im Werk über die Gewerkschaft zu sprechen, und von denen wir aus Erfahrung wissen, dass sie von den Kolleg*innen um sie herum respektiert werden. (Wir wollten niemanden, die*der uns hilft, aber dann vielleicht gekündigt wird oder andere Beschäftigte entfremdet.)

„Talkers sind…Leute, die bereit sind, mit ihren Kolleg*innen in ihrem Team oder im Werk über die Gewerkschaft zu sprechen, und von denen wir aus Erfahrung wissen, dass sie von den Kolleg*innen um sie herum respektiert werden.“

Unsere Regel: Verpflichtet niemanden sofort zu irgendetwas. Beobachtet sie einfach in ihrer Handlung und seht, ob ihre Kolleg*innen positiv auf sie reagieren.

Mobile Talkers

Wir wussten, dass wir „Talkers“ im ganzen Werk brauchten, vor allem war es wichtig, diejenigen mit der größten Mobilität in ihren Bereichen zu identifizieren, einschließlich:

  • Läufer*innen, deren Arbeit sie entlang des Fließbands führt
  • Fahrer*innen, deren Aufgaben darin bestehen könnten, Teile an dem Fließband zu liefern
  • Teamleiter*innen, die sich bewegen können, weil sie nicht an dem Fließband sind, und die einen größeren Einfluss haben, weil sie andere anleiten.

Das Identifizieren von „Talkers“ mit Bewegungsfreiheit erlaubte es uns, uns einen weiteren Vorteil zu verschaffen: Geschwindigkeit. In der Vergangenheit hatten Organizer*innen uns stattdessen immer gesagt, der einzige Weg zu gewinnen sei, langsam zu gehen und bestimmte Bedingungen oder Meilensteine zu erreichen; sie betonten die Mentalität, dass „es ein Marathon ist, kein Sprint“.

Digital agieren, um schnell zu handeln

Wir veröffentlichten Links zu digitalen Eintrittskarten per SMS und verteilten QR-Codes auf Handzetteln. Die Talkers ermutigten dann diejenigen in ihrer Gruppe zu unterschreiben. Man muss das Momentum bekommen, bevor die Union-Busting-Kampagne des Arbeitgebers startet.

Nach mehreren vergangenen Kampagnen wissen wir, was wir vom Management von Mercedes erwarten können. Es gibt einen Standardbrief, den sie immer herausgeben, der eine Liste von Schrecken darüber aufzählt, was passieren könnte, wenn man die Gewerkschaft beitritt.

Die Geschäftsführung hat Treffen mit unseren Vorgesetzten darüber, wie sie Beschäftigten davon abhalten können, teilzunehmen, ohne zu weit zu gehen. Ein Vorteil in einem deutschen Unternehmen wie Mercedes ist, dass sie auf Gesetze und Gremien in ihrem Heimatland tendenziell schon mehr Rücksicht nehmen, sodass die Union-Busting-Kampagne hier relativ mild war.

Seit 2013 gab es keine richtigen Union-Busting-Kampagne in unserem Werk. Es ist die externe Kampagne, die mir Sorgen macht – wie öffentliche Auftritte des Gouverneurs unseres Bundestaates, der alles Mögliche sagen könnte. Aber viele Beschäftigte hier haben bereits den Standardbrief des Managements während der letzten Kampagne 2022 gesehen. Seitdem hat sich nichts verbessert – und die Empörung der Leute über das Zwei-Klassen-System hier ist das stärkste Werkzeug, das wir je hatten.

Baue euer Mapping auf

Nutzt alle verfügbaren Mittel, um eine Liste aller Beschäftigten zu erstellen, die in eurem Werk arbeiten. Macht Fotos von Überstundenlisten, was auch immer! Sobald Beschäftigte identifiziert sind, müssen wir Listen führen, um folgen zu können, wer mitmacht.

Nutzt alle verfügbaren Mittel, um eine Liste aller Beschäftigten zu erstellen, die in eurem Werk arbeiten.

Teilen Sie die Liste in Untergruppen auf, damit Ihre Talkers genau wissen, mit wem sie sprechen müssen, und damit Sie Ihre schwach organisierten Arbeitsbereiche identifizieren können. Bereiche ohne Talkers werden schwach bleiben bzw. werden. Haltet euer Mapping deswegen aktuell.

Wir hatten immer noch die persönlichen Beziehungen aus der Kampagne 2022 und eine relativ genaue Liste der Personen, die im Werk arbeiteten. Wir mussten lediglich die Talkers identifizieren, die in jeder Arbeitsgruppe agieren, um zu beginnen, oder eine*n „Fahrer*in“ oder „Läufer*in“, um diesen Bereich abzudecken, bis wir eine*n gefunden hatten.

Mit unser Mapping wissen wir, wer andere anspricht. Das zeigt sich in den Zahlen. Wir schicken die „mobile Talkers“ aus, um neue Talkers in unseren schwachen Bereichen zu rekrutieren.

Neuland

Ihr benötigt ein Mittel, um Informationen schnell an euren Aktivenkreis und andere Beschäftigte im Betrieb zu verbreiten. SMS ist am einfachsten. Findet Möglichkeiten, Texte so zu formulieren, dass sie Gemeinsamkeit, Enthusiasmus und ein Gefühl des unvermeidlichen Sieges fördern.

Pläne müssen unter dem Aktivenkreis geteilt werden. Zoom-Meetings sind am bequemsten, aber wir sollen vermeiden, diejenigen auszuschließen, die kein Zoom machen wollen. Holt sie einfach nach.

Was kommt als Nächstes? Wir befinden uns jetzt im Neuland. Die Bewegung ist immer noch beeindruckend, und wir haben immer noch Arbeitsbereiche, in denen wir Talkers rekrutieren müssen. Aber wir wissen, dass es eine Mehrheit braucht, um zu gewinnen. Also ist der nächste Schritt, 50 % eben zu erreichen.

  1. [Werkstatt Erschließung] In den USA gestaltet sich die Erschließungsarbeit aufgrund der unterschiedlichen arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen oft ganz anders. Es ginge in diesem Fall um das mittelfristige Ziel, dass Beschäftigten sog. „Autorisierungskarten“ oder Unterschriftenlisten unterzeichnen, so dass die Gewerkschaft UAW rechtlich eine betriebliche „Anerkennungswahl“ einleiten dürfte, in der eine Mehrheit der Beschäftigte für die Gewerkschaft abstimmen musste. Am Ende des Tages geht es allerdings dort wie hier darum, eine Mehrheit der Beschäftigten zu organisieren. ↩︎
  2. [Werkstatt Erschließung] Da die Zutrittsrechte für Gewerkschaften in den USA kaum vorhanden sind, sehen sich viele Organisator*innen in unorganisierten Betrieben dazu gezwungen, die Ansprache über Hausbesuche zu organisieren. ↩︎